top of page
  • AutorenbildHelmut Geiselhart

Unsere Niederlage ist gigantisch

Wir, fortschrittliche Intellektuelle, militante Humanisten, Aktivisten für die Menschenrechte und für die offene Gesellschaft, kosmopolitische Bürger, sind unfähig, die Flut von Nationalismus und Autoritarismus, die sich ausbreitet, einzudämmen.


Donald Trump bewohnt das Weiße Haus, die Europäische Union zeigt Schwächen, Wladimir Putin ist der Pate unserer Zeit, Matteo Salvini ihr aufgehender Stern; es gibt immer mehr Mauern und Brücken, die einstürzen, Häfen, die sich schließen für Asylanten; Grenzen sind wieder gefragt, die liberale Demokratie, die sich bis an die Grenzen der Weltgesellschaft ausdehnen sollte, schrumpft wieder: Unsere Niederlage ist gigantisch. Wir, fortschrittliche Intellektuelle, militante Humanisten, Aktivisten für die Menschenrechte und für die offene Gesellschaft, kosmopolitische Bürger, sind unfähig, die Flut von Nationalismus und Autoritarismus, die sich ausbreitet, einzudämmen.


Was haben wir falsch gemacht, um nur noch so wenig gehört zu werden?


Es war ja mal ganz anders.


Alfred Herrhausen war Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Bank, ein hoch angesehenes Unternehmen, weltweit unterwegs, uneingeschränkt erfolgreich. Er schlug vor, den Entwicklungsländern die Schulden zu erlassen, um sie so früher in die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu entlassen. Herrhausen erlag einem Terroranschlag.


Helmut Schmidt, damals Bundeskanzler, unterstützte den amerikanischen Präsidenten beim Nato-Doppelbeschluss. Das zwang die Sowjetunion in die Knie, führte zur Auflösung des Ostblocks und schließlich zur deutschen Wiedervereinigung. Ihn kostete es die Kanzlerschaft. Die Ideologen waren nicht auf seiner Seite.


Klaus Liesen vereinbarte mit der Regierung der UdSSR das Erdgas-Röhrengeschäft. In eisigen Zeiten des Kalten Krieges band er durch dieses Geschäft die Sowjetunion an den Westen. Liesen musste persönlich in Washington vor Vertretern der amerikanischen Regierung für dieses Geschäft Rechenschaft ablegen. Es bestand das Risiko, der amerikanischen Justiz ausgeliefert zu werden. Der eine riskiert seine Kanzlerschaft, der andere verliert sein Leben, der dritte gefährdet seine Freiheit.


Die Philosophie der Beliebigkeit


Heutzutage droht der Vorstandsvorsitzende eines Automobilunternehmens, 100.000 Arbeitsplätze abzubauen, wenn die Regierung nicht aufhört, Dieselmotoren mit Abgaswerten zu schikanieren, nachdem das Unternehmen Kunden jahrelang mit falschen Werten betrogen hat.


Der Vorstandsvorsitzende eines großen Energieunternehmens kündigt an, dass der Hambacher Forst auf jeden Fall abgeholzt wird. Der Boden würde zum Auffüllen einer anderen Grube gebraucht. Er ahnt wohl nicht, welche Widerstandsmacht er damit auf den Plan ruft.


Der Vorstandsvorsitzende des größten deutschen Technologiekonzerns zögert lange, seine Teilnahme am „Davos der Wüste“, wo er einen Vortrag halten sollte, abzusagen, weil die Veranstalter in den Mord an dem Journalisten Kashoggi verwickelt waren. Er habe viel zu tun, wenn er jede Reise in ein Land absagen wolle, in dem ein Mensch verschwunden ist, oder so ähnlich war sein Kommentar.


Fehlender moralischer Tiefgang, ohne philosophische Selbstreflexion, kalte Distanz zu Menschen, nicht nur bei wenigen herausragenden Personen des öffentlichen Lebens. Wir zahlen jetzt den Preis für die Philosophie der Beliebigkeit, den geistlosen Pragmatismus und die Beschleunigung ohne Sinn. Was bleibt denn noch, wenn die Hoffnung auf eine gelingende Zukunft schwindet?


Es war falsch, diese Bezogenheit auf das Ich, die Sorge um sich.


Es bleibt die Erkenntnis von Emmanuel Levinas, dass die Konzentration auf das Wohl des Einzelnen, sein Bestreben nach persönlicher Entfaltung, nach Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse und nach Verwirklichung seiner individuellen Vorhaben, die Förderung dieser Ichbezogenheit durch Philosophie und Psychologie zu den großen Katastrophen in der Geschichte der Menschheit geführt hat.


Menschen sind sterblich, und alles, was sie zur eigenen Selbsterhöhung angesammelt haben, stirbt, es wird ihnen weggenommen. Was Menschen für andere tun, in einer „radikalen Zuwendung zum Anderen“, bleibt. Es lebt weiter, hinterlässt Spuren, prägt Erinnerungen. Es ist wie bei einer Mutter, die ganz für ihr neugeborenes Kind da ist. Es ist ein Leben, das nicht mehr von der Sorge um sich beherrscht wird, wo es um mehr geht als nur um mich, wo die Erfahrung der Freiheit vom kleinkarierten Ich entsteht.


Lernen als neue Leitideologie


Statt der „radikalen Zuwendung zum Anderen“ geht es noch immer um die eigene Geltung. Der Vorsitzende muss die Werte fälschen. Er kann auf den Umsatz nicht verzichten. Er muss den Vortrag halten, auch wenn die Teilnahme moralisch kompromittierend ist. Er kennt keine Gefühle und Rücksichten auf Menschen, wenn es um rechtlich abgesicherte Unternehmensstrategien geht.


Mit Narzissmus beschreiben wir diese Grundhaltung bei Menschen, die sehr verletzbar, nicht kritisierbar und unablässig auf Anerkennung aus sind. Sie sind meist schlechter Laune und reagieren auf enttäuschende Erfahrungen mit Wut oder Niedergeschlagenheit. Sie streben nach hohen Führungspositionen, weil sie dort am ehesten ihr Geltungsstreben befriedigen können.


Weil sie aber zu abhängig sind von der Meinung anderer, zu sehr auf Bestätigung aus sind und die Anerkennung anderer für ihr eigenes psychisches Gleichgewicht brauchen, sind sie für Führungsaufgaben nicht geeignet. Sie treffen falsche Entscheidungen, haben zu wenig Einfühlungsvermögen für andere, und es fehlt ihnen die Orientierung an moralischen Werten. Auch wenn sie noch so sehr danach streben und sich durch fachliches Können anbieten, in Führungspositionen bereiten sie nur Probleme.


Wir erkennen, dass narzisstische Menschen keine hilfreichen Begleiter sind, dass auch in digitalen Vernetzungen die radikale Zuwendung zu anderen Menschen eine bessere Grundlage für das Zusammenleben bildet.


Angesichts von Populismus, neuem Autoritarismus und Angriffen auf demokratische Institutionen ist es hilfreich, dass wir uns auf philosophische Grundüberlegungen besinnen wie Kants: „Wage dich deines Verstandes zu bedienen.“ Oder Poppers: „Niemand ist im Besitz der Wahrheit.“ Wir brauchen keine Besserwisser oder Rechthaber. Wir wollen immer wieder nach der besseren Lösung suchen, und zwar in Kommunikation mit anderen. Dabei ist Kritikfähigkeit gefragt, als Voraussetzung für Lernen.


Wir sehen eine Weltgemeinschaft im Entstehen durch digitale Vernetzung, verbunden mit Zuwendung zum Anderen statt narzisstischer Selbstbezogenheit, auf der Basis der rationalen Suche nach der besseren Lösung, bereit zu kritisieren und sich kritisieren zu lassen, um frei von Herrschaftswissen weiter zu lernen, damit Lernen die neue Leitidee der Weltgesellschaft wird. Statt Macht, Geld oder Ideologie – Lernen.


Der Autor ist Gründer seines eigenen Instituts „Geiselhart Seminare" und BILANZ-Kolumnist.

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 14.03.19 auf Bilanz veröffentlicht.

bottom of page